Mich treiben schon seit ein paar Jahren Fragen zum Thema Freundschaft um. Ich will versuchen, für mich mehr Klarheit in dieses Thema zu bringen. Auf der Suche nach Antworten finde ich im Netz heraus, dass ich nicht die Einzige bin, die sich derartige Fragen stellt. Es wird klar, dass jeder Freundschaft auf seine Weise definiert. Und natürlich habe ich eine ganz persönliche Sicht auf diese Dinge, auch wenn ich versucht habe, möglichst objektiv zu bleiben. Ich habe mich über ein paar Tage immer wieder hingesetzt und zu diesem Thema recherchiert, nachgedacht und geschrieben.
Folgende Fragen habe ich mir gestellt:
- Was macht einen Freund zum Freund?
- Ähneln sich Freunde?
- Wie viel Ehrlichkeit verträgt eine Freundschaft?
- Wie viel Freiheit muss ich ihr geben? Was darf eine Freundin von mir verlangen? Und umgekehrt?
- Gibt es auch Pflichten in der Freundschaft?
- Welche Tugenden gehören zur Freundschaft?
- Machen uns Freunde zu "besseren" Menschen?
- Was kann eine Freundschaft überhaupt?
- Kann der/die Partner/in oder ein/e Bruder/Schwester auch ein Freund sein?
- Umso tiefer eine Freundschaft ist, umso mehr kann ich verzeihen?
Was zeichnet nun Freundschaft aus? Ich habe zum Bespiel Freunde, mit denen komme ich nur ein- oder zweimal im Jahr in Kontakt, sei es ein - dann sehr langes - Telefongespräch, sei es für einen längeren Besuch. Sind das auch Freunde? Ja, ich würde definitiv ja sagen. Sie gehören dann zwar nicht zum engsten Kreis, sind mir aber dennoch ganz nahe. Dann habe ich eine Freundin, die ich manchmal mehr als ein oder zwei Jahre nicht mehr sehen. Aber wenn wir uns dann wieder einmal austauschen, ist die Verbindung immer gleich sehr intensiv da. Würde ich auch sie als Freundin bezeichnen? Nein, ich glaube nicht. Dafür aber vielleicht "Seelenschwester".
Dann gibt es da noch die Menschen, zu denen ich zwar Kontakt pflege, auch regelmässig, und wir tauschen uns auch aus, aber eher auf informativer und nicht auf tiefer persönlicher Ebene. Ich würde diese Menschen nicht zu meinem engeren Freundeskreis zählen. Ich kenne sie gut, und sie kennen mich gut. Aber das, was mich heute sehr bewegt, ist nicht das, was sie bewegt. Diese Gruppe ist fast am Schwierigsten einzuordnen. Uns verbindet viel Vergangenes, aber es hat nicht mehr so viel im Jetzt. Trotzdem bleiben sie - im Moment - noch bestehen, weil sie einmal wichtig waren. Sie sind also in einer Wandlungsphase. Ich hatte in den letzten Jahren durch meine Arbeit sehr nahen Kontakt zu vielen Menschen, die bei mir wohnten und arbeiteten. Ich habe mit einigen viel und intensive Zeit verbracht. Wir haben zusammen gearbeitet, gegessen, gelacht und geweint, haben Wochen miteinander verbracht. Wir haben dabei zum Teil tiefgehende Gespräche geführt und offen unsere Erfahrungen ausgetauscht. Es war eine reiche Zeit. Sind diese Menschen nun Freunde von mir geworden? Automatisch, weil wir diese reiche Zeit geteilt haben? Sie sind auf alle Fälle mehr als nur Bekannte, soviel ist gewiss. Freunde sind jene geworden, mit denen mich noch heute mehr als gemeinsam verbrachte Zeit verbindet. Nun, da ich auf einem neuen Weg bin, zeigt es sich dann wohl auch, ob unsere Verbindungen standhalten werden, ob unsere Interessen sich noch teilen lassen oder ob die Wege sich nun scheiden.
Ja, und dann gibt es noch jene Freunde, auf die ich wirklich zählen kann, wenn mich etwas plagt. Wenn ich irgendwo anstehe und nicht weiterkomme, dann weiss ich, dass ich dort auf offene Ohren stosse. Und wenn wir uns austauschen, gehen wir (meist) in eine tiefere Verbindung. Wir hören einander zu, wir suchen miteinander und wir geben uns gegenseitig Mut und Kraft. Das ist zwar nicht immer so. Manchmal ist der andere nicht in dieser Verfassung oder hat nicht immer gleich viel Zeit. Aber wenn es wichtig ist, dann schaffen wir diese Umstände, die dem anderen weiterhelfen können. Das sind nur ganz wenige Menschen, aber das reicht und ich empfinde sie und diese Verbindung als sehr sehr wertvoll.
Ich glaube, heute bräuchte es mehr Definitionen und Bezeichnungen für all diese verschiedenen Beziehungen. Vielleicht hilft es schon, zu unterscheiden, ob nahe, eng, tief oder fern und oberflächlich. Ich erinnere mich an meine Zeit in Frankreich, als sich in meinem damaligen Bekanntenkreis viel bewegte. Es waren zum Teil traumatische Erfahrungen. Hätte ich damals klarer getrennt zwischen Bekannten und Freunden, bzw. hätte ich beizeiten Erkenntnisse ins Bewusstsein geführt, wäre ich nicht so heftig überrascht worden. Was ich damals von diesen Menschen erwartet habe, war Freundschaft. Erwiesen haben sie sich als "unfeine" Freunde, als Nutzfreundschaften, die zwar nett und interessant waren, aber einem starken Wind nicht standhalten konnten.
Sicher ist, dass sich die Qualitäten oder auch die Bezüge von Freundschaften geändert haben. Wir leben in neuen Zeiten, wir wachsen, wir entwickeln uns. Ebenso die Qualität von Freundschaften. Doch was ist, was heute eine feine Freundschaft auszeichnet? Ein wichtiges Merkmal, so scheint mir, ist die gleiche Augenhöhe. Ich brauche nicht einmal zwingend an die gleichen Werte zu glauben. Wenn die Verbindung trotzdem mutig, offen und wohlwollend ist, dann kann sie Menschen zu gleichwertigen Freunden machen. In dem Film "Ziemlich beste Freunde" wird sehr schön gezeigt, wie aus Menschen aus komplett unterschiedlichen sozialen Gefügen und Werten Freunde auf gleicher Augenhöhe werden können. Er zeigt, dass anfänglich grosse Hürden/Vorurteile mit Offenheit und Mut überwunden werden können. Dies bedingt die Auseinandersetzung mit Nähe und Distanz, vielleicht sogar auch die Bereitschaft, sich quasi "auszuliefern".
Vielleicht kennt ihr das auch, die pseudoharmonischen Freundschaften? Wir wollen unsere Komfortzone nicht verlassen, haben Angst, dass wir zu nah an den anderen oder an ein schwieriges Thema geraten? Also ich ja, auf jeden Fall. Ich habe mich schon in solchen Momenten wiedergefunden. Es geht dabei immer um eine Gratwanderung. Wieviel Neugier darf es sein? Setze ich mich für mich oder etwas ein? Will ich die Welt/Beziehung verändern und gestalten? Oder lasse ich es sein, lehne mich zurück und lächle weiter? Manchmal denke ich, es gibt - wie fast überall - ein sowohl als auch. Es ist die innere Haltung der Liebe, die sich wohl auch in einer Freundschaft widerspiegeln sollte/darf. Ich glaube, wir kennen auch alle das Gefühl der Enttäuschung. Diese Leere, die entsteht, wenn das Gefühl, sich in etwas oder jemandem getäuscht zu haben aufkommt. Hier glaube ich, gehört eine gute Portion Auseinandersetzung dazu, um die Dinge klären zu können. Manchmal reicht es, bei Menschen, die einem nicht so nahe oder die nicht mehr erreichbar sind, dies für sich ganz alleine zu tun. Aber wenn dies in Freundschaften passiert, die Bestand haben sollen, dann finde ich, gehören diese Themen aufs Tapet. Es ist dann genau die Übung, wo es um Verzeihen, Klären und Versichern geht. Wohlverstanden, es geht nicht um Verpflichtung, sondern um das, was uns letztlich umso mehr verbindet.
Freundschaft ist offenbar nichts Statisches. Es kann sich im Werden befinden oder im Auflösen, das habe ich begriffen. Doch streben Menschen unterschiedlich schnell vorwärts. Manchmal zieht der eine den anderen sogar mit. Und manchmal bleiben sie auf der Strecke, die Beziehung schläft ein. Es gibt doch heute den mehr oder weniger schönen Ausdruck für Lebensabschnittspartner... vielleicht finden wir einen ähnlichen, schöneren für Freundschaften?
Machen uns Freunde zu besseren Menschen? Was ist besser? Eine Bewegung vom Niederen, Schwachen hin zu Höherem und Starkem. Ja! Unbedingt. Jede Verbindung, die diese Bewegung im Auge behält und kultiviert, macht uns "besser". Die Frage, ob wir in der Verwandtschaft auch Freunde finden/haben können, finde ich schwierig. Im Grunde ist das sicherlich möglich, doch bleibt ein Rest an "Unfreiwilligkeit", denn trotz aller Freundschaft ist und bleibt dieser Mensch mein/e Bruder/Schwester oder Onkel/Tante. Dieses Element verlangt unheimlich viel Bewusstsein und Achtsamkeit, um nicht in bestimmte Fallen zu treten. Hingegen, so finde ich, sollte der Freund, die Freundin, auch in der Partnerschaft zu finden sein. Vielleicht sogar das tragende Element. Die Liebe wandelt sich, kann schwanken und abstumpfen. Aber die freundschaftliche Zuwendung bleibt unverändert. Wäre das nicht fein?
Ich denke, in Zeiten von Facebook, WhatsApp & Co., von Schnell und Oberflächlich, gleichzeitig von grosser Individualisierung und einer Art veredeltem Egoismus, von fehlender Moral und Ethik wird echte Freundschaft ein immer selteneres und kostbareres Gut. Es zeigt sich, dass wir in unserer heutigen Zeit tiefe Freundschaften an einer Hand abzählen können, vielleicht braucht es sogar nur einen einzigen Finger dazu. Ist das vielleicht fragwürdig? Nicht unbedingt, denn es plagt uns ja nichts, oder? Ich stelle mir die Frage trotzdem, wieso dies so ist. Die Menschen aus meiner Generation haben gelernt, uns unabhängig und frei zu machen. Das, was wir uns "erarbeitet" haben, teilen wir nicht unbedingt mit anderen. Wir haben eher das Gefühl, dieses "kostbare" Gut schützen und verteidigen zu müssen. Bloss nicht zu viel helfen, wir müssen Nein sagen können, unsere Freiheit verteidigen. Ausserdem unterhalten wir ja viele Kontakte über die digitalen Wege und müssen uns da durchaus auch schon mal gerechtfertigt vor "zu viel" oder "zu schnell" schützen. Unsere moralische und ethische Haltung ist individueller geworden. Unsere Toleranz grösser. Überhaupt, so scheint es, sind Moral und Ethik ganz unbeliebte Kinder geworden. Sie haben den Anstrich der Kirche und werden daher oft weit von sich gewiesen. Dabei geht es hier um Prinzipien, die früher klarer definiert waren und für viele Menschen galten, zum Beispiel für eine Familie, ein Dorf, eine Glaubensgemeinschaft oder gar einen Staat. Das gab uns ein Gefühl von Gemeinschaft und Sicherheit. Da die Macht dieser Instanzen immer mehr aufweicht, Individualisierung immer mehr zur Triebfeder unseres Handelns wird, wären wir eigentlich gefordert, unsere ureigene Haltung aktiv zu klären.
Das bedeutet wohl, wir sollten uns auseinandersetzen, mit dem, was uns wichtig ist, und uns vielleicht auch entscheiden, welche moralische und ethische Haltung wir haben wollen. Wenn das Alte nicht mehr gilt, was soll es dann sein? Wofür stehen wir ein und welche Werte wollen wir hoch halten. Ich lande bei diesen Überlegungen auch immer wieder beim Thema Lebensgemeinschaft. Wenn es denn bei der Freundschaft nicht um Verschmelzung geht, sondern um eine Art Wegbegleitung, die Tiefe und Bestand hat, dann kann sie auch die Grundlage für Gemeinschaftliches sein. Wieso nicht Freunde, die uns beim alt und älter werden begleiten? Wieso nicht jene Menschen, die uns am besten verstehen? Die Familie hat nicht unbedingt das "Heu auf der gleichen Bühne".
Mir scheint, wenn wir feine Freundschaften haben wollen, wir zuallererst unser Verhältnis zu uns selbst betrachten sollten. Sind wir uns selbst die beste Freundin? Oder hören wir immer nur unseren inneren Kritiker? Was ist mit einem wohlwollenden und pflichtfreiem Engagement gegenüber uns selbst? Und wäre nicht diese Haltung auch jene, die wir unseren Freunden entgegenbringen sollten?
Ein Versuch, Freundschaft zu kennzeichnen:
- Interesse: Es herrscht ein gutes Maß an gegenseitigem Interesse (was uns bewegt), beide können das bekunden
- Wohlwollen: der Wunsch - in aller Freiheit und mit Güte, den anderen zu unterstützen und zu nähren
- Milde: wir sind alle nicht perfekt - Vergeben und Verzeihen - Sturköpfe bleiben am Ende alleine
- Ehrlichkeit: weg von Pseudoharmonie - hin zum Echten und Authentischem
- Freiheit: unausgesprochen, dafür umso wichtiger, aus Distanz freiwillig Nähe entstehen lassen
- Offenheit: eine eher forschende, fragende, staunende Haltung öffnet Türen und ermöglicht Annäherung
- Moral & Ethik: Haltung einnehmen. Daran können wir arbeiten - ein wunderbarer Stoff für Gespräche unter Freunden
- Zeit: Freundschaftspflege braucht qualitative und quantitative Zeit, ohne die verkümmert sie wie eine Pflanze ohne Licht
- Vertrauen: wenn ich offenbare, dann ist das ein Zeichen von Vertrauen. Tun wir es gegenseitig, dann entsteht Nähe und daraus kann Freundschaft erwachsen
- Spiegel: Freundschaft kann ein wunderbarer Spiegel sein, zur Weiterentwicklung, wenn wir Kritik zulassen können
- Gleichwertigkeit: auf gleicher Augenhöhe sein - nicht unbedingt gleiche Werte
- Verbindlichkeit: mehr Verbindlichkeit als Pflicht, und dies in voller Freiwilligkeit